Rot-Grüner Koalitionsvertrag für Nordrhein-Westfalen endlich – mit mehr als fünfeinhalb Stunden Verspätung – vorgestellt
Nachdem am 13. Mai 2012 aus der bisherigen Minderheitsregierung von SPD und Grünen eine Mehrheitsregierung geworden ist, stand natürlich auch ein neuer Koalitionsvertrag zur Diskussion.
In mehreren Runde zwischen den roten und den grünen Unterhändlern wurde dieser Koalitionsvertrag erarbeitet (zuletzt gab es eine 19-Stunden-Schicht von gestern bis heute früh morgens – nur unterbrochen durch ein Geburtstagsständchen für Hannelore Kraft und die Lieferung von Energydrinks für die Unterhändler). Offiziell müssen noch die jeweiligen Parteitage dem Entwurf des Koalitionsvertrags zustimmen. Davon ist aber auszugehen.
Eigentlich war der Koalitionsvertrag schon morgens fertig und wurde auch entsprechend von den Verhandlungsführerinnen Hannelore Kraft und Sylvia Löhrmann (und den Fraktionsvorsitzenden Reiner Priggen und Norbert Römer) vorgestellt:
Doch obwohl man eigentlich davon ausgehen sollte, dass zu diesem Zeitpunkt ein Koalitionsvertrag vorliegen müsste, sollte er erst um ca. 16:00 Uhr veröffentlicht werden. Aaber dieser Hinweis verschwand recht schnell von der Homepage der NRWSPD und die Grüne-Fraktion informierte nachmittags via Twitter, dass da immer noch redigiert wird. Inzwischen gibt es ihn aber endlich auf den Homepages der NRWSPD und von den Grünen NRW bzw. als direkten PDF-Download: Koalitionsvertrag von SPD und Grünen für NRW 2012-2017.
Das nachträgliche verhandeln redigieren dauerte dann doch nochmal mehr als fünfeinhalb Stunden… warum auch immer.
So ein Koalitionsvertrag ist natürlich ein Sammelsurium an Einzelvorschlägen die mehr oder weniger in thematisch passende Kapitel zusammengefasst werden.
„Leuchttürme“ im Koalitionsvertrag
Interessant sind jedoch einige „Leuchttürme“ (in Anlehnung an einen ehemaligen nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten…), also bestimmte Themen, die in der Öffentlichkeit stark diskutiert wurden und wo es interessant wird zu sehen, wer sich wie durchgesetzt hat – denn auch wenn die SPD und die Grünen sich sehr harmonisch geben (ganz anders als zu den Zeiten der „Leuchttürme“…), so gibt es doch teilweise inhaltliche Differenzen und wenn man den Medienberichten glauben kann, soll es auch den einen oder anderen Zwist gegeben haben.
Ladenöffnungszeiten
Liest man nur die Ãœberschrift „Sonn- und Feiertagsschutz sichern – Ladenöffnungsgesetz novellieren“, dann sieht das klar danach aus, dass Rot-Grün den Wildwuchs bei den verkaufsoffenen Sonn- und Feiertagen korrigieren möchte. Jedoch findet sich dort kein konkretes Wort zu den Doppelfeiertagen (Ostern, Pfingsten, Weihnachten), wo die SPD – jedenfalls in Oppositionszeiten – eine andere Regelung anstrebte und interessanterweise verlängert Rot-Grün den Sonntag auf 26 Stunden, denn dem Koalitionsvertrag fängt der Sonntagsschutz schon am Samstag um 22:00 Uhr an. Also gilt am Samstag bzw. Sonnabend bereits ab 22:00 Uhr ein Verkaufsverbot. Ob man damit verkehrsrechtlich (wenn etwas an Werktagen, zu denen der Samstag gehört, verboten ist) oder steuerrechtlich (Stichwort: Sonntagszuschläge) durchkommt sei mal dahingestellt.
Zukunftsperspektiven für die Steinkohleregion
Die „Steinkohleregion“ (man hätte das auch primär Ruhrgebiet nennen können…) soll Zukunftsperspektiven erhalten – und interessanterweise soll die RAG-Stiftung nicht nur die Ewigkeitslasten des Bergbaus finanzieren, sondern ein Ziel der Stiftung soll es auch sein „industrielle Kernkompetenzen am Standort NRW zu erhalten“ – und auch weiterhin für günstigen Mietraum zu sorgen.
Neue Kraftwerke für NRW
Der Koalitionsvertrag sieht ein, dass man nicht gleichzeitig aus der Atomenergie und den fossilen Energieträgern aussteigen kann – das ist insofern schon eine Änderung gegenüber den Aussagen gerade von grünen Politikern vor der Wahl.
Fracking
Das so genannte „Fracking“ (um „Erdgas aus unkonventionellen Lagerstätten“ zu gewinnen darf nicht mit giftigen Chemikalien durchgeführt werden und Probebohrungen und dergleichen sollen erst dann genehmigt werden, wenn nachgewiesen ist, dass es keine nachteiligen Auswirkungen auf die Grundwasserbestände gibt. Die Formulierung „Wir wollen keine Genehmigungen … zulassen“ aus dem Koalitionsvertrag klingt jedoch nicht so gut wie beispielsweise „Wir werden keine Genehmigungen … zulassen“.
Kanaldichtheitsprüfung
Die „Funktionsprüfung von Abwasserkanälen“ ist hierzulande stark in der Diskussion und der Koalitionsvertrag spricht von einem fairen Ausgleich zwischen den Interessen aller Hauseigentümerinnen und Hauseigentümer und dem Gewässerschutz. Interessant jedoch, dass anscheinend längere Fristen bei Ein- und Zweifamilienhäusern vorgesehen sein sollen. In größeren Häusern mit mehreren Wohnparteien anscheinend nicht – das ist eine interessante Bevorzugung der Hausbesitzerinnen und -besitzer gegenüber Mieterinnen und Mietern, denn denen werden die dadurch anfallenden Kosten von den Vermieterinnen und Vermietern umgelegt. Das ist insofern merkwürdig, als dass an anderen Stellen (siehe RAG-Stiftung, Mieterschutz) eher auf die Mieter geachtet wird.
Stärkungspakt Stadtfinanzen
Die Landesregierung will die nordrhein-westfälischen Kommunen (bzw. die 61 besonders strukturell betroffenen) weiter unterstützen – statt bisher rund 465 Millionen Euro sollen rund 660 Millionen Euro jährlich fließen.
Stärkung direkte Demokratie auf Landesebene
Volksbegehren, Volksentscheide und Volksinitiativen sollen einfacher ermöglicht werden – und auch zu Themen mit „finanzwirksamen“ Auswirkungen, was bisher bei Volksbegehren nicht möglich war.
Das mit der mehr Beteiligung hätte man übrigens auch schon eher haben können – denn die Auflösung des nordrhein-westfälischen Landtages und die damit verbundene Neuwahl war jetzt nicht unbedingt die einzige Lösung für die gescheiterte Haushaltsabstimmung. Gemäß Artikel 68 hätte die Landesregierung das Volk über den im Landtag abgelehnten Haushalt abstimmen lassen können – aber das nur am Rande.
Anoynme Kennzeichenpflicht bei Polizisten
Unter der Wahrung der Persönlichkeitsrechte sollen die „Polizistinnen und Polizisten eine individualisierte anonymisierte Kennzeichnung der Polizei beim Einsatz geschlossener Einheiten“ erhalten – sprich: beispielsweise bei Hundertschaften. Es soll ja schon Fälle von Polizeigewalt gegeben haben, wo man die Verursacher nicht ermitteln konnte – das könnte sich jetzt ändern.
A propos Ermittlung: Im Internet soll auch ermittelt werden bzw. die Öffentlichkeitsarbeit der Polizei vermittelt werden. Denn es soll geprüft werden, inwiefern „die Nutzung sozialer Medien im Internet“ möglich ist. Vielleicht gibt es dann auch keine Phasen mehr, wo monatelang die Homepages der Polizei nicht in Betrieb waren…
Nichtraucherschutz
Dem Koalitionsvertrag zufolge ist der Nichtraucherschutz auch im Gastronomiebereich „konsequent und rechtssicher auszugestalten“. Das ganze aus Gründen des Gesundheitsschutzes, der Chancengleichheit und des Wettbewerbsgedankens. Inwiefern es jedoch mit dem Wettbewerb vereinbar ist, dass anscheinend – wie einige es fordern – alle Gaststätten konsequent ein Rauchverbot einzuführen haben und somit es eben keinen Wettbewerb dahingehend gibt, bleibt fraglich. Genau so, inwiefern die Gaststätten, die der bisherigen Gesetzeslage nach teure Umbaumaßnahmen durchführten um die Bereiche der Nichtraucherinnen und Nichtraucher von denen der Raucherinnen und Raucher zu trennen.
Als Vorbild nennen die Grünen via Twitter übrigens den Nichtraucherschutz in Bayern.
Stärkung des Regionalverbandes Ruhr (RVR)
Der Regionalverband Ruhr (RVR) soll, als „starke Klammer für das Ruhrgebiet“ gestärkt werden. Außerdem soll er in seinen Strukturen weiterentwickelt werden, in dem das entsprechende RVR-Gesetz novelliert werden soll. Wie das jedoch aussieht bleibt unklar, da nicht wirklich mehr als die zwei, drei Zeilen dazu im Koalitionsvertrag stehen. Klare Forderungen nach einer Direktwahl des Ruhrparlaments und des RVR-Direktors beispielsweise fehlen.
Netzpolitik
Beim letzten rot-grünen Koalitionsvertrag für NRW war ich netzpolitisch eher enttäuscht, aber diesmal sieht das ganze auf den ersten Blick schon besser aus. So strebt Rot-Grün für NRW auch eine Bundesratsinitiative (wie beispielsweise in Hamburg an) um eine Haftungsprivilegierung von Betreiberinnen und Betreibern öffentlicher WLAN-Zugänge zu erreichen.
Das Wort Netzsperren taucht nicht mehr auf – aber angesichts der Tatsache, dass meines Wissens das rot-grün regierte Nordrhein-Westfalen im Allgemeinen bzw. im Speziellen unter Verantwortung einer grünen Regierungspräsidentin die einzigen Netzsperren bundesweit noch aktiv sind, ist das vielleicht auch besser so… ;)
Fazit…
Man muss den Koalitionsvertrag sich mal ganz genau anschauen um da wirklich eine Art Fazit ziehen zu können, jedoch erweckt er schon ein wenig den Eindruck, dass die grüne Handschrift besonders stark ist, während man von einer roten Handschrift nicht überall etwas sieht.
Was insofern schon ein wenig verwundert, da man nach dem Wahlergebnis vom 13. Mai 2012 jetzt nicht unbedingt davon ausgehen musste, dass wieder Koalitionsverhandlungen im Stil der „Leuchtturmwärter“ von damals durchgeführt werden, aber es hätte sich auch inhaltlich wohl an der einen oder anderen Stelle eher zeigen sollen, dass die SPD andere Meinungen vertritt als die Grünen. Hier sei beispielsweise der Nichtraucherschutz gedacht, dessen rigide bayerische Form, dann doch deutlich die grüne Handschrift trägt und nicht die moderate rote.
[…] NRW III: Rot-Grüner Koalitionsvertrag für Nordrhein-Westfalen endlich – mit mehr als fünfeinhalb Stunden Verspätung – vorgestellt…Pottblog […]
Haste schon mal überlegt, ob die Verspätung eher „timing“ ist? Die Veröffentlichung erreichte mich mit der Tagesschau/den Tagesthemen um 22 Uhr. Durch die späte Veröffentlichung ist sicher gestellt, dass die Berichterstattung in den Zeitungen am Folgetag und in den Abendnachrichten allein auf die Pressekonferenz verweisen kann. Damit behalten die Autoren länger die Hoheit über die Meinungsbildung. Und natürlich ist so das Netz zwangsläufig schneller.
Ich erlebe immer wieder, dass Ergebnisse von Gutachten der Presse per Powerpoint vorgestellt werden. Das Gutachten selber wird jedoch erst Wochen später veröffentlicht. Die bis dahin nicht verifizierbare, einseitige Interpretation solcher Gutachten ist bis dahin medial verarbeitet. Fragen sind bis dahin kaum möglich. Die Botschaft steht bis dahin als Solitär im Raum.
@Dirk Schmidt (2):
Nein, weil ich mir das da nicht vorstellen konnte.
Wobei natürlich ein netter Nebeneffekt erreicht wurde, den ich evtl. in Kürze noch thematisieren werde.