BILD Online erhält Mißbilligung zur Loveparade-Berichterstattung
Der Beschwerdeausschuss des Deutschen Presserates hat – unter dem Aktenzeichen AZ 0527/10/1-BA – eine Missbilligung gegenüber BILD Online aufgrund der Berichterstattung zur Loveparade-Katastrophe am 24. Juli 2010 in Duisburg ausgesprochen.
Nachfolgend eine Dokumentation des Beschlusses:
Zusammenfassung des Sachverhalts
In der Zeit vom 24. — 26. 07.2010 veröffentlicht BILD Online immer wieder Fotostrecken, auf denen Fotos von Menschen in der Massenpanik zu sehen sind. Es werden sowohl Fotos abgedeckter Leichen als auch von verletzten Menschen gezeigt. Insbesondere die Fotostrecke „Die Bilder des Todesdramas — Panik am Eingang“ hat zu Beschwerden geführt.
Insgesamt liegen dem Presserat hierzu 179 Beschwerden vor. Fast alle Beschwerdeführer monieren, dass die z. T. nur notdürftig abgedeckten Leichen dargestellt werden. In einigen Fällen sind Details, wie z. B. eine besonders auffällige Uhr zu erkennen. In anderen Fällen werden Menschen dargestellt, die in Panik sind und um Luft ringen. Hierin erkennen die Beschwerdeführer Verstöße gegen die Ziffern 1 und 11 des Pressekodex. Sie sehen in den Fotostrecken eine unangemessene sensationelle Darstellung sowie einen Verstoß gegen die Menschenwürde. Einige Beschwerdeführer nennen die Ziffer 9 als Beschwerdegrund und sagen, es liege eine Ehrverletzung vor. Besonders hervorgehoben werden von einigen Beschwerdeführern die Untertitel der Fotostrecken, wie z. B. „Die Leiche eines jungen Ravers liegt abgedeckt im Müll“ oder „Ein Foto, das Gänsehaut vermittelt — zwei Tote am Haupteingang“ oder auch „Die Hand im Tode verkrampft. Auch dieser Mann wurde bei der Panik vermutlich zerquetscht“.
Mit Schreiben vom 6. September 2010 antwortet die Abteilung Verlagsrecht der Axel Springer AG ausführlich zu der Beschwerde. Einführend weist sie daraufhin, dass die Tragödie in Duisburg eine der schwersten und aufmerksamkeitserregendsten Unglücksfälle dieses Jahrzehnts in Deutschland darstelle und aufgrund bekannter Ungereimtheiten in der Organisation der Durchführung der Großveranstaltung auf erhebliches Unverständnis und Widerstand in der Öffentlichkeit stoße. Sie verweist darauf, dass bei Geschehnissen von besonderem öffentlichen Interesse und herausragender zeitgeschichtlicher Bedeutung die Presse eine voll umfassende Informations- und Chronistenpflicht habe. Dies bedeute daher für den Journalisten immer wieder eine schwierige Gratwanderung zwischen zurückhaltender und nicht zu drastischer, gleichzeitig jedoch vollständiger und ungefilterter Darstellung des zeitgeschichtlichen Moments. Der Zeitung obliege ein demokratischer Informationsauftrag und eine Chronistenpflicht, die dazu führe, dass man die Öffentlichkeit voll umfänglich und ungefiltert über die Geschehnisse informieren wolle. In diesem Rahmen gehöre dazu jedoch auch, dem mündigen Leser einen erschreckenden Unglücksfall in seinem ganzen entsetzlichen Ausmaß nahe zu bringen. Im Einzelnen nimmt die Rechtsabteilung wie folgt Stellung:
1. Zu den Abbildungen leidender Menschen:
Zentraler Punkt in den einzelnen Beschwerden sei der Vorwurf, dass die Fotos Situationen zeigen, in der Menschen litten, verunglückten oder sich in Todesgefahr oder Todesangst befänden. Hierin sehen die Beschwerdeführer Verletzungen der Ziffer 1, 8 und 11. Alle diese Vorwürfe seien bei genauer Betrachtung jedoch unbegründet. Auf den Fotos würden die abgebildeten Personen weder systematisch öffentlich herabgewürdigt noch würde mit den Personen in unerträglicher Weise umgegangen werden. Die Menschenwürde der Betroffenen würde nicht angegriffen, da der Zweck der Veröffentlichung weder eine Kommerzialisierung noch eine Herabwürdigung der Betroffenen zum bloßen Objekt beinhalte. Die Veröffentlichung dokumentiere vielmehr ein Ereignis von überragendem öffentlichem Interesse. Dieses sei grausam und in der Betrachtung unangenehm, doch es gelte: Nicht die Darstellung, sondern die ihr zu Grunde liegende Realität sei brutal. In diesem Kontext Menschen in Angst und Panik darzustellen, kollidiere nicht mit der Menschenwürde der abgebildeten Personen. Die Fotos dokumentieren dabei auf einzigartige Weise die dramatischen Momente, die authentische Informationen über das Geschehen beinhalten. Durch die Bildberichterstattung werde allerdings keine der dargestellten Personen in irgendeiner Weise herabgewürdigt oder aus voyeuristischen Zwecken zum bloßen Objekt degradiert.
2. Persönlichkeitsrechte der Abgebildeten
Auch ein Verstoß gegen die Persönlichkeitsrechte der abgebildeten Personen sei zu verneinen, da die Fotos aufgrund der herausragenden Bedeutung presseethisch nicht zu beanstanden seien. Dies ergebe die gemäß Richtlinie 8.1 Abs. 1 Satz 3 vorzunehmende Abwägung zwischen dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit und dem Persönlichkeitsinteresse der Betroffenen. Das Informationsinteresse der Öffentlichkeit an einer vollumfänglichen und realistischen Berichterstattung, die in ihrem gänzlich schrecklichen Umfang nur durch die optische Darstellung der entsetzlichen Ereignisse dem Leser nahe zu bringen sei, überwiege daher auch in der vorliegenden Angelegenheit deutlich dem Interesse der Abgebildeten. Dies gelte auch, wenn man berücksichtige, dass die Abgebildeten nur zufällig Teil dieses zeitgeschichtlich bedeutsamen Ereignisse wurden. Der Presserat habe bereits häufiger entschieden, dass es auch zu den Aufgaben der Presse gehöre, über grausame Realitäten zu berichten.
3. Abbildung von Sanitätern
Die Fotos zeigten die Bedingungen, unter denen rund 500 Verletzte auf einmal versorgt wurden. Alle Rettungsmaßnahmen seien dezent und ohne Erkennbarkeit des jeweils Verletzten oder dessen Verletzung dargestellt. Keine Abbildung gehe über das sachliche Informationsinteresse hinaus.
4. Abbildung von Ausschnitten toter Körper
Im vorliegenden Fall könne von einer entwürdigenden Darstellung der Opfer keine Rede sein, da auf den betreffenden Bildern nur einzelne Arme oder Beine unter der Plane herausragten und somit keine entwürdigende Position der Toten gezeigt würden. Die Bilder zeigten vielmehr das tatsächlich, unerwartet tödliche Ende von Menschen, die lediglich an einer Spaßveranstaltung teilnehmen wollten.
5. Abbildung von Angehörigen und Freunde in Trauer
Die Trauernden seien Teil des Gesamtgeschehens und daher seien die Bilder zeitgeschichtliche Dokumente. Die Aufnahmen seien im öffentlichen Raum entstanden, die Motive Teil des Ereignisses. In der Aufmachung seien die Trauernden nicht unangemessen hervorgehoben.
6. Aufruf an die Leser, Bilder und Berichte zu schicken
Der Aufruf der Zeitung an seine Leser, Bilder und Berichte von der Katastrophe in Duisburg zu schicken, sei presseethisch unbedenklich, da es schlicht um die Beschaffung von Informationen gegangen sei. Die Presse habe Anspruch auf Recherche unmittelbar vor Ort eines Ereignisses. Allein diesem Zweck der Informationsbeschaffung habe der Aufruf der Zeitung gedient.
Erwägungen des Beschwerdeausschusses
Insgesamt hatten sich 179 Beschwerdeführer insbesondere zu den Fotos auf Bild.de gemeldet, die alle der Auffassung waren, dass in der fotografischen Darstellung der Love Parade Fehler gemacht worden seien. Die meisten der Beschwerdeführer sahen z. B. die Fotos abgedeckter Leichen der getöteten jungen Menschen als unangemessen sensationell an. So waren Fotos zu sehen, auf denen die abgedeckten Leichen inmitten von Unrat und den Resten der von den Sanitätern benutzten Hilfsmittel lagen. Auch Fotos, die mehrere Leichen auf dem Gelände (alle zugedeckt) zeigten, wurden als unangemessen sensationell moniert. Die Mitglieder des Beschwerdeausschusses machten jedoch deutlich, dass diese Fotos in erster Linie das wiedergeben, was sich in der Realität abspielte. Wer Informationen in Wort und Bild über den tragischen Ablauf dieses Unglücks erfahren wollte, konnte sich nur mit Hilfe solcher Fotos ein Bild davon machen. Selbstverständlich, so sagten alle Ausschussmitglieder, sind die Bilder furchtbar. Dennoch kann und darf diese furchtbare Realität gezeigt werden, solange die Darstellung nicht unangemessen sensationell ist in dem Sinne, dass sie die Opfer erneut zu Opfern und zum bloßen Mittel und Objekt machen. Genau dies ist in den Fotos, die dem Presserat vorliegen, im Großen und Ganzen nicht der Fall. Die Szenenfotos zeigen die Bedingungen, unter denen die Menschen zu leiden hatten, also auch Szenen aus der Massenpanik heraus auf der einige Menschen in höchster Not zu sehen sind. Diesen Menschen kann man die Panik ansehen. Um der nicht anwesenden Öffentlichkeit ein realitätsgerechtes Bild von der Massenpanik und den Umständen zu machen, kann genau diese Darstellung notwendig werden, so der Beschwerdeausschuss. Nach seiner Auffassung sind in keinem Fall ersichtlich sterbende oder dem Tode nahe Menschen zu erkennen. Wichtig ist für die Mitglieder auch, dass die Toten allesamt mit einem Laken abgedeckt sind, so dass diese auch nicht von den Angehörigen identifiziert werden können. Es findet also keine Zurschaustellung von Leichen statt.
Bezüglich der Untertitel zu den Fotos erkennt der Ausschuss auch in den meisten Fällen eine nachrichtliche Form und keine unangemessen sensationelle Darstellung. So lautet etwa eine Unterzeile: „Die Leiche eines jungen Ravers liegt abgedeckt im Müll“. Dies klingt schrecklich und das ist es auch: Es ist schrecklich, dass die jungen Menschen umkamen und dort so lagen. Es ist jedoch keine unangemessen sensationelle oder eine sensationsheischende Darstellung. Der Titel gibt das wieder, was sich den Ãœberlebenden als Bild gezeigt hat. Dies und nichts anderes wird auch beschrieben.
Einzig das Foto mit dem Untertitel „Die Hand im Tode verkrampft. Auch dieser Mann wurde bei der Panik vermutlich zerquetscht.“ wurde von den Mitgliedern missbilligt. Das Opfer hier ist anhand der auffälligen Uhr an seinem Arm, die unter dem Leichentuch hervorschaut, gegebenenfalls für einen kleineren Personenkreis erkennbar. Der Presserat moniert hier, dass diese Leiche nicht wie auf den anderen Bildern mit Abstand und in einen Gesamtkontext eingebettet sondern vielmehr in Nahaufnahme gezeigt wird. Dabei ist dieser Mensch anhand einer auffälligen Uhr gegebenenfalls identifizierbar. Hier liegt ein Verstoß gegen Ziffer 8 ((Ziffer 8 – Persönlichkeitsrechte: Die Presse achtet das Privatleben und die Intimsphäre des Menschen. Berührt jedoch das private Verhalten öffentliche Interessen, so kann es im Einzelfall in der Presse erörtert werden. Dabei ist zu prüfen, ob durch eine Veröffentlichung Persönlichkeitsrechte Unbeteiligter verletzt werden. Die Presse achtet das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und gewährleistet den redaktionellen Datenschutz.)) des Pressekodex vor. Auch empfinden die Beschwerdeausschussmitglieder die Unterzeile dieses Fotos als sehr unangemessen und sensationsheischend. Die Zeile suggeriert spekulativ, dass der junge Mann zerquetscht wurde. Dadurch werden Fantasien der Leser ausgelöst. Hierin erkennt der Beschwerdeausschuss einen Verstoß gegen die Ziffer 11 ((Ziffer 11 – Sensationsberichterstattung, Jugendschutz: Die Presse verzichtet auf eine unangemessen sensationelle Darstellung von Gewalt, Brutalität und Leid. Die Presse beachtet den Jugendschutz.)) und 2 ((Ziffer 2 – Sorgfalt: Recherche ist unverzichtbares Instrument journalistischer Sorgfalt. Zur Veröffentlichung bestimmte Informationen in Wort, Bild und Grafik sind mit der nach den Umständen gebotenen Sorgfalt auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen und wahrheitsgetreu wiederzugeben. Ihr Sinn darf durch Bearbeitung, Ãœberschrift oder Bildbeschriftung weder entstellt noch verfälscht werden. Unbestätigte Meldungen, Gerüchte und Vermutungen sind als solche erkennbar zu machen. Symbolfotos müssen als solche kenntlich sein oder erkennbar gemacht werden.)).
Insgesamt kommt der Ausschuss zu dem Ergebnis, dass viele der Bilder, die gezeigt werden, auch gezeigt werden durften — vielleicht sogar gezeigt werden mussten, um über das Ereignis in einer angemessenen Art und Weise zu informieren. Auch die Fotos die die Rettung einer jungen Frau über die Nottreppe zeigen gehören dazu. Auch diese Darstellung ist nicht unangemessen sensationell, sondern zeigt die Rettung und die schwierigen Bedingungen unter denen diese stattfand.
Ergebnis
Presseethisch bewertet der Ausschuss den festgestellten Verstoß gegen die publizistischen Grundsätze als so schwerwiegend, dass er gemäß § 12 Beschwerdeordnung eine Missbilligung ausspricht. Nach § 15 Beschwerdeordnung besteht zwar keine Pflicht, Missbilligungen zu veröffentlichen. Als Ausdruck fairer Berichterstattung empfiehlt der Beschwerdeausschuss jedoch eine solche redaktionelle Entscheidung.
Die Entscheidung über die Begründetheit der Beschwerde sowie Entscheidung über die Wahl der Maßnahme ergeht einstimmig.
Mal wieder alles fruchtlos.