Wie weit dürfen virale Videos gehen (am Beispiel des Ausbrechers Michalski beim VideoCamp)?
Am vergangenen Wochenende fand in Essen das VideoCamp statt und in einer der Sessions ging es um die Planung eines viralen Videos. Ein virales Video ist ein Video, welches (von einem ersten „Kick“ abgesehen) von alleine weiterverbreitet und die Runde in Mails, Twitter, Blogs, Facebook & Co. macht.
So etwas zu planen ist schon recht schwer und nicht umsonst schreibt Markus Hündgen, einer der Veranstalter des VideoCamps, im Beitrag 37 Links für virale Videos, dass man eigentlich en virales Video gar nicht bewusst produzieren könne.
Eigentlich… aber uneigentlich hat es meiner Meinung nach dann doch einigermaßen geklappt, denn es ist den Session-Teilnehmern (und ich zähle mich da eigentlich nicht wirklich hinzu, da ich bei der eigentlichen Arbeit, dem Dreh des Videos nicht dabei war, sondern einer anderen Session beiwohnte) doch gelungen innerhalb kürzester Zeit ein Video zu erstellen, welches kurzfristig doch recht bekannt gemacht wurde und welches quasi auf viralem Wege sich weiterverbreitete.
Im Nachhinein frage ich mich jedoch, ob das gut war oder nicht. Das liegt daran, dass das Video ein ernstes Thema hatte: Die beiden ausgebrochenen JVA-Häftlinge (bzw. nachdem mit Michael Heckhoff kurz vorher der erste geschnappt worden war, ging es primär um Peter Paul Michalski), die rund um Essen gesichtet worden waren.
Das Video „Essener Opa schnappt Ausbrecher Michalski“
Das virale Video spielte mit diesem Thema, indem der Eindruck erweckt wurde, dass ein älterer Herr (auch „Opa“ genannt) an der Speaker’s Corner 2.0, direkt zwischen dem Einkaufszentrum Limbecker Platz und dem Unperfekthaus gelegen, vorbei geht und glaubt im dort gerade referierenden Redner den Ausbrecher Michalski zu entdecken. Nach der Entdeckung folgte dann stante pede eine „Arretierung“ des vermeintlichen Ausbrechers, in dem der ältere Herr sich auf den Redner stürzte, ihn quasi umrannte und damit dingfest machte. Siehe auch dazu das entsprechende Video:
Klar, im Nachhinein mag man Indizien erkennen, die darauf hinweisen, dass das kein zufällig gedrehtes Video war, doch hinterher ist man ja sowieso immer schlauer. Außerdem bin ich mir relativ sicher, dass wenn nicht relativ schnell das YouTube-Video selber den bisherigen Titel „Essener Opa schnappt Ausbrecher Michalski“ verloren hätte (und dann den neuen Titel „Viral-Experiment beim VideoCamp“ bekam), das ganze weiter seine Runden gemacht hätte.
Der virale Erfolg (?)
Ob dieses Video jetzt einen viralen Erfolg zu feiern hat, kann man meiner Meinung nach nicht genau beurteilen, dafür ist es zu schnell „enttarnt“ worden, so dass sehr früh nach Beginn der Aktion klar war, was sich dahinter verbirgt. Doch auch in der recht kurzen Zeit nach Startschuss bis Aufdeckung konnte das Video eine recht hohe Aufmerksamkeit generieren:
zwischenzeitlich (Stand 01.12.2009 um 22:00 Uhr) haben über 3.000 Leute das Video bei YouTube gesehen.
alleine der Link auf den Pottblog-Beitrag Essener Opa schnappt Ausbrecher Michalski, den ich via Twitter und Facebook verbreitet habe, wurde innerhalb kürzester Zeit fast 700 mal angewählt.
Nicht eingerechnet sind dabei die (mir nicht vorliegenden) Zahlen der anderen Tweets bei Twitter, etwaiger weiterer Blog- oder Facebook-Einträge.
Ein großer Teil der Zuschauer dürfte der ganzen Sache geglaubt haben. Wenn ich beispielsweise den Business-On Ruhr-Beitrag Videoprofis, Flipcam und ein mutiger Opa auf Ausbrecherjagd lese, dann hat man zwar die gedankliche bzw. räumliche Nähe zum VideoCamp hergestellt, aber nicht 1+1 kombiniert (Hinweis: zwischenzeitlich wurde der Beitrag dort verändert – ich lese beispielsweise mit einem gewissen Erstaunen dort die Begründung für die Aufdeckung des viralen Videos…). Hingegen wurde im Blogspot der Neuen Westfälischen das ganze meiner Meinung nach fast zu 100% korrekt dargestellt.
Wie weit darf ein solches Video gehen?
Schon in der Planungssession (an der ich ja teilnahm und mich auch ein-, zweimal zu Wort meldete) wurde durch einen Teilnehmer klargestellt, dass man auf keinen Fall übertreiben dürfe und wir für das Video kein „Gladbeck 2.0“ inszenieren dürften. Eine These, auf die sich alle ohne großes Überlegen einigen konnten. Was ich gut fand, denn theoretisch hätte ein Video, welches den Anschein erweckt hätte dass da jemand vom Ausbrecher Michalski entführt und das ganze zufällig auf Video festgehalten wird, gleich noch eine andere Qualität besessen.
Das Problem was ich jetzt im Nachhinein mit diesem Video habe (und das ich mich aktiv an der Verbreitung verteilt habe) ist die klassische Kindergeschichte von der Person, die unentwegt (aber ohne Grund) Feuer, Feuer ruft und anfangs immer Hilfe von anderen bekommt, die das Feuer löschen wollen, was gar nicht da ist. Dann brennt es jedoch mal wirklich und die Hilferufe werden ignoriert, da sie ja schon in der Vergangenheit nicht echt waren.
Natürlich kann man das ganze nicht vergleichen, aber wenn man das ganze versucht auf eine Web 2.0-Basis zu stellen, dann muss man sich doch fragen, wie man reagiert hätte, wenn folgende Situation eingetreten wäre:
- Ich stehe auf dem Rückweg vom VideoCamp alleine im Auto an einer roten Ampel irgendwo zwischen Essen und Olfen (am besten noch irgendwo „auffem platten Land“, weil ich einen Stau auf der A40 umfahren wollte).
- Plötzlich reißt der Ausbrecher meine Beifahrertür auf, hält mir eine geladene Waffe vor Gesicht, steigt ein und befiehlt mir irgendwohin zu fahren.
- Mir gelingt es in einem unbeobachten Moment mit einem Handy über meinen Status zu informieren (ob jetzt direkt über Twitter, über eine SMS an Twitter, über einen mobilen Livestream via Qik oder oder oder).
Hätte man mir eine Nachricht wie „Ausbrecher M in meinem Auto! Auf dem Weg nach Schermbeck! Informiert Polizei!“ geglaubt, nachdem ich kurz vorher an der Verbreitung des viralen Videos beteiligt war?
Um natürlich eine solche Situation zu erhalten, müssen schon viele Zufälle auf einmal eintreffen und selbst dann würde ich nicht unbedingt unbemerkt mich via Handy bemerkbar machen können (vor allem, da man auf dem Apple iPhone nicht blind tippen kann, was bei einem Tastatur-Handy jedoch eher möglich wäre) oder gar wollen (man will ja da niemanden reizen…).
Ãœberlegungen im Nachhinein
Im Nachhinein überlege ich wirklich ob das ganze richtig war. Nichts gegen die Idee zu versuchen ein Video viral zu verbreiten – aber vielleicht sollte man doch bei der Themenwahl etwas sensibler vorgehen, oder?
PS: Interessant finde ich ja schon, dass Michalski (der echte jetzt) laut Presseangaben ungefähr so gestellt wurde, wie im YouTube-Video dargestellt. Er wurde bedrängt und quasi umgeworfen. Nur dass man beim VideoCamp halt keine „Requisiten“ wie Autos und Fahrräder zur Verfügung hatte…
Es ist eine Tatsache, dass Menschen gerne glauben, was man Ihnen erzählt. Gute oder schlechte Nachrichten werden da kaum noch differenziert.
Das wichtigste ist, dass man Ihnen die Informationen so hinwirft, dass sie sich keine weiteren Gedanken darüber machen müssen.
Das funktioniert mit kleinen Videos natürlich noch besser als mit Nachrichten, die gelesen werden müssen.
Ich denke also, dass sich virale Videos wie ein Strohfeuer verbreiten werden, sind sie erst einmal auf die Menschen losgelassen.
Ich habe zu der Aktion meine ganz persönliche Meinung. Mehr dazu später bei mir…
Nur eine kurze Anmerkung zur Berichterstattung in Business on Ruhr. Ich habe am Samstag an der Diskussion über das Viralvideo in der Session im Unperfekthaus teilgenommen und die Session am Sonntag im Livestream verfolgt. Aus mehreren Alternativen und auf Basis der eher theoretischen Diskussion über das Thema haben sich die Teilnehmer für die „reißerische Variante mit hohem Aktualitätsbezug“ entschieden. Als ich dann den Bericht über das VideoCamp geschrieben habe, wollte ich natürlich die Aktion nicht „outen“ und habe nach einem Weg gesucht, sie trotzdem zu erwähnen. Denn wir wollten ja auch – wie verabredet – mit unseren Möglichkeiten an der Verbreitung des Videos mitwirken. Als dann die Realität die Fiktion beinah eingeholt hat und die Initiatoren selbst das Video auf YouTube als „Fake“ kennzeichnet, haben wir den Artikel auf Business On dann nochmal entsprechend ergänzt. So ist wohl die Verwirrung entstanden. Ansonsten gebe ich Dir recht: Vermutlich hätten wir mit so einem ernsten Thema nicht spielen sollen. Aber es ging bei dem Experiment vor allem um den praktischen Beweis der am Vortag diskutierten These, dass man mit etwas Know how und einem entsprechenden Netzwerk innerhalb kürzester Zeit eine gezielt Viralvideo-Lawine ins Rollen bekommen kann. Ich war und bin da immer noch skeptisch – aber wenn die ganze Geschichte angesichts der Polizeiaktionen am Sonntag-Nachmittag nicht „zu heiß“ geworden wäre, hätte das vielleicht tatsächlich geklappt. Die Zahlen deuten in diese Richtung.
Klar wäre für dein Szenario, wie Du selber schreibst, eine gehörige Menge Zufälle nötig.
Hier ist ein anderes Szenario, bei dem mich wirklich mal interessieren würde, ob es nicht sogar eingetreten ist:
Wie viele Leichtgläubige rufen die Polizei an und geben sowas durch? Zumal man hier nicht das Ende sieht (Abführung durch Polizei) könnte man auf die Idee kommen, der Kerl konnte wieder fliehen.
Dieses Szenario finde ich sehr viel wahrscheinlicher – und wenn das einige machen könnte man einem vielleicht sogar einen Strick draus drehen á la Behinderung der Justiz – die ist in letzter Zeit ja sehr erfinderisch (oder hinterm Mond, je nach Betrachtungsweise), was neue Medien betrifft.
@Markus Hündgen (2):
Ich bin gespannt!
@Wolfgang Müller (3):
Erstmal Danke für diesen informativen Kommentar. Insofern erklärt sich ja das ganze mit der Berichterstattung bei BOR. Die „reißerische“ Variante hatte ja den Vorteil, dass man sich dafür nicht komplett ausziehen musste… ;)
Und ich glaube auch, dass man mit dem geeigneten Netzwerk eine solche virale Angelegenheit zum Laufen bringen kann. Die Zahlen sprechen da wirklich für sich.
@JTL (4):
Ich bin ja ein Freund von „Was wäre wenn…“-Geschichten. Da müssen natürlich immer mehr Zufälle ‚rein. ;)
Dein von Dir geschildertes Szenario ist übrigens unter Umständen viel wahrscheinlicher. Insofern ist der Einwand gut und berechtigt.